der Hundertstundenwind

 

Künstlerhaus-Projekt Relief auf Papier / eig. Technik

mit Kupferdraht  (110x140x15cm)

 

 

 

 

 

 

Er kommt aus Ost. Er weht mit warmen Wirbeln über ungarisches Steppengras, lässt es aufglühen in der Sommersonne. Er fegt über die Wiesen und Wälder des Wienerwaldes, und fällt mit heißen Schwingen hinunter aufs Tullner Feld, folgt dem Lauf der Donau zurück nach West. Alles lässt er vibrieren, aufflattern, sich nach seinem Willen beugen.

 

Nach hundert Stunden verliert er die Kraft, hört schlagartig auf zu atmen, als wäre er nie dagewesen.  Samenkörner sinken aus der Luft, Fallschirmchen, Rispen, goldene Pollenkügelchen.

 

Bunt-treibende, getriebene Linien quellen mir aus den Farbstiften, ‚treiben weiter aus‘, wachsen analog zum unaufhaltsamen Wachsen und Werden der Natur nach den fraktalen Prinzipien. Spontan entsteht eine reine, kompakte Form aus dem Chaos - ein rollender Erdball? -, es kommt zu einem Sich-Finden der verworrenen Linien, der Striche, der Splitter, Gräser, Fäden, Stängel, gegebenenfalls der sich dazwischendrängenden Wörter, die sich - plötzlich, wie in zufällig-wunderlichem Geschehen -  zu einem Ganzen/ zu einem Gedicht sammeln, sich verdichten. Der in meinen Arbeiten hinzugefügte Kupferdraht erhöht die Energie des schroffen Linienwachstums, versinnbildlicht die in die Höhe ziehende Kraft der Sonne, ihre magnetisierende Wärme. Unaufhaltsam lässt mein Arm, lässt meine Hand die Linien wachsen, bis mein Wille eine Grenze setzt, so wie in der Natur die kalte Jahreszeit Grenzen setzt, Grenzen des Wachsens/ Pausen, die neues Leben, neue Energie, neues Gleichgewicht ermöglichen.

 

In den ‚leeren‘ Raum meines Bildes hinein tanzen all die Samenkörnchen, entfernen sich in ein Zwischenreich, Kupferfarbe und dunkelndes Schwarz in sich bergend, das Geheimnis neuen Lebens.

 

 

von Osten weht er.

Über die Puszta

rollt  er

                                   glühende Sonnen.

Von Südosten weht er

zündet die Felder an

öffnet die Knospen

von abertausend Sonnenblumen

entfacht ihr Feuer

wühlt sich

in ihr Gelb, drängt sich

durch in das schwarzgoldne

Innerste.

 

Von Osten weht er.

Warm und trunken

zerrt er

an den Wipfeln

                                       sommersummender Wälder

bringt sie zum Rauschen  –

                    trockenes Geäst

        knackt er

         zu Boden.

 

Noch schrillt die Grille

voll Liebeslust

in den Wellen der Wiesen

 

doch

                die Unruhe wächst.                 

 

Susanne Kittel-Haböck

 (aus dem Bündel ‘IN SCHWEBE’)

                                               

 

Susanne Kittel-Haböck arbeitet seit vielen Jahren am ‚Fühlbarmachen‘ der Natur, der Sonnenwärme, der Faszination des Sommerwindes und der Winterkälte, der Vergänglichkeit des Gewachsenen, des Kreislaufes, des Wunders des Rätsels Leben. Von den großformatigen Licht- und Schatten-Reliefs aus Sisalschnur kam sie zu Farb- und Wachsstiften auf Papier, entwickelte ihre eigene Technik und spielt mit dem Schimmer des Kupferdrahtes.